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Teil 1 - Thematik, Ausgangslage - Stand der Kenntnisse

1-2-03: Ausdifferenzierung, Strukturbildung und Entwicklung früher graphischer Äusserungen nach Kellogg

Einleitung

Die bis heute umfangreichste empirische Untersuchung früher graphischer Äusserungen stammt von Rhoda Kellogg. Sie gilt denn auch im englischsprachigen Raum als eine der wichtigsten Referenzen. Ihre Untersuchung bezieht sich auf ein Archiv von über einer Million Zeichnungen und Malereien, zum grössten Teil in den Jahren 1948 bis 1966 in einer Kindergarten-Organisation in San Francisco (USA) aufgebaut und empirisch ausgewertet (Einzelheiten siehe Kellogg, 1970, S. 2–5).

Kellogg hat 1967 eine exemplarische Auswahl ihres Archivs auf Mikrofichen veröffentlicht. Wir haben dieses Archiv digital reproduziert und auf dem Internet als Re-Edition veröffentlicht (Kellogg, 1967/2007). Für nähere Einzelheiten verweisen wir auf die Einleitung dieser Re-Edition.

Illustrationen zu den nachfolgenden Erläuterungen können anhand des Archivs von Kellogg eingesehen werden, indem im Menü der Re-Edition «Archive Structure - Categories» aufgerufen und alle Kategorien über das Symbol «++» aufgelistet werden. Wir verweisen im Text auf diese Illustrationen und geben jeweils den Code der jeweiligen Bilderserie an. Zugleich verzichten wir auf allzu ausführliche Auflistungen aller Einzelmerkmale aller Oberkategorien, weil diese in der Re-Edition selbst eingesehen werden können.

Kellogg beschreibt die Entwicklung früher graphischer Äusserungen in zehn grösseren Bereichen oder Phasen:

Basic Scribbles

Zu Beginn der zeichnerischen Entwicklung differenzieren die Kinder gemäss Kellogg 20 so genannte Grundformen des Kritzelns aus. Wesentliches Merkmal dieser Kritzelformen ist es nach Ansicht der Autorin, dass sie auch ohne visuelle Kontrolle, «blind», gezeichnet und ausdifferenziert werden können. Im Folgenden werden die 20 Formen mit ihrer englischen Bezeichnung aufgelistet:

Zur Illustration siehe Bilderserien mit dem Codeanfang K-A im Archiv von Kellogg.

Placement patterns

Die erste formbezogene Erscheinung, das heisst die erste bildhafte Erscheinung einer visuellen Kontrolle des Gezeichneten, besteht in so genannten «Platzierungsmustern», in welchen die Kritzelformen erscheinen. Die Kritzelformen werden in solchen Mustern nicht willkürlich auf der Zeichenfläche verstreut, sondern gezielt gemäss visuellem Eindruck platziert. Kellogg nennt 17 Arten solcher Anordnungen auf der Zeichenfläche.

Zur Auflistung der Anordnungsarten sowie deren Illustration siehe Bilderserien mit dem Codeanfang K-B im Archiv von Kellogg.

Emergent diagram shapes

Aus diesen Platzierungsmustern bilden sich wiederum 17 Umrisse als erkennbare Formen heraus. Die gezeichneten Kritzelformen sind nun so angeordnet, dass sie ein Oval oder einen Kreis oder ein Dreieck oder ein Kreuz oder andere solche Formen erkennen lassen.

Zur Auflistung der Arten von Umrissen sowie deren Illustration siehe Bilderserien mit dem Codeanfang K-C im Archiv von Kellogg

Diagrams

Aus den Platzierungsmustern und den nachfolgend aufkommenden diagrammartigen Umrissen entwickeln sich die eigentlichen Diagramme, mit einer Ausnahme, als reguläre geometrische Formen. Hinzu kommt die Verbindung von ihnen mit Platzierungen. Sie seien wiederum mit ihren englischen Bezeichnungen aufgelistet:

Zur Illustration siehe Bilderserien mit dem Codeanfang K-D im Archiv von Kellogg.

Combines

Werden zwei so genannte Diagramme zusammengefügt, so nennt Kellogg dies «Combines». Je nach dem Gesichtspunkt, nach welchem solche Kombinationen interpretiert werden, entsteht eine unterschiedliche Anzahl theoretisch möglicher Fälle. Die Autorin hebt aus der Menge solcher Möglichkeiten elf von ihr häufig beobachtete Fälle hervor:

Zur Illustration siehe Bilderserien mit dem Codeanfang K-E im Archiv von Kellogg.

Aggregates

Werden drei oder mehr Diagramme zusammengefügt, so nennt Kellogg dies «Aggregates». Kellogg hebt aus der Menge solcher Möglichkeiten 22 Fälle hervor. Zu diesen Fällen gehören insbesondere Aufreihungen von Diagrammen in einer Zeichnung (beispielsweise mehrere Kreise oder Rechtecke), gegenseitig miteinander verbundene Einzelformen, strukturartige Zusammenstellungen, gebildeartige Konfigurationen, Musterungen.

Zur Auflistung der einzelnen Aggregate sowie deren Illustration siehe Bilderserien mit dem Codeanfang K-F im Archiv von Kellogg.

Mandalas

Bekommen die Zusammenstellungen von Diagrammen deutlichen konzentrischen Charakter, beziehen sie sich auf eine Mitte, so nennt Kellogg diese Formen «mandalas». Dabei unterscheidet die Autorin 13 verschiedene «mandala aggregates». 

Zur Auflistung der einzelnen Mandalas sowie deren Illustration siehe Bilderserien mit dem Codeanfang K-G im Archiv von Kellogg.

Suns

Parallel zur Entwicklung von Kombinationen, Aggregaten und Mandalas stellen sonnenartige Formen, das heisst Zentralkörper mit radial wegführenden Strichen, eine eigenständige Gruppe von zu beobachtenden bildhaften Erscheinungen dar. Die Autorin unterscheidet 13 verschiedene Typen solcher Formen. 

Zur Auflistung der einzelnen Typen sowie deren Illustration siehe Bilderserien mit dem Codeanfang K-H im Archiv von Kellogg.

Radials

Eine zweite eigenständige Gruppe von zu beobachtenden bildhaften Erscheinungen stellen von einer Mitte weglaufende Striche oder Geraden dar, welche die Autorin als «radials» bezeichnet und für welche sie sieben verschiedene Typen beschreibt. 

Zur Auflistung der einzelnen Typen sowie deren Illustration siehe Bilderserien mit dem Codeanfang K-I im Archiv von Kellogg.

Early pictoralism

In Zusammenhang mit Kombinationen, Aggregaten, Mandalas, sonnenartigen und radialen Konfigurationen entstehen frühe gegenständliche Abbildungen: Menschen, Tiere, Gebäude, Pflanzen, Transportmittel sowie zu Szenen verbundene Darstellungen. Hinzu kommen gelernte Darstellungen (darunter auch Buchstaben und Zahlen). Diese Gruppen werden jeweils in sich weiter unterteilt.

Zur Auflistung von «Humans» (Menschen) sowie der Illustration entsprechender Zeichnungen siehe Bilderserien mit dem Codeanfang K-J im Archiv von Kellogg. 

Zur Auflistung von «Animals» (Tiere) sowie der Illustration entsprechender Zeichnungen siehe Bilderserien mit dem Codeanfang K-K.

Zur Auflistung von «Buildings» (Gebäude, Bauwerke) sowie der Illustration entsprechender Zeichnungen siehe Bilderserien mit dem Codeanfang K-L.

Zur Auflistung von «Vegetation» (Pflanzen) sowie der Illustration entsprechender Zeichnungen siehe Bilderserien mit dem Codeanfang K-M.

Zur Auflistung von «Transportation» (Beförderungsmittel) sowie der Illustration entsprechender Zeichnungen siehe Bilderserien mit dem Codeanfang K-N.

Zur Auflistung von «Joined Pictorials» (Verbindung verschiedener Abbildungen) sowie der Illustration entsprechender Zeichnungen siehe Bilderserien mit dem Codeanfang K-O.

Zu all diesen grundlegenden Bestandteilen der frühen graphischen Struktur kommen häufig zu beobachtende zusätzliche Erscheinungen hinzu, auf welche hier nicht näher eingegangen werden soll. Für einen Überblick verweisen wir auf die Gruppierungen mit den Codeanfängen K-Q bis K-W sowie die entsprechenden Erläuterungen in Kellogg (1970).

Wichtige Aspekte

Die Ausdifferenzierung, Strukturbildung und Entwicklung früher graphischer Äusserungen verläuft gemäss Kellogg kontinuierlich, wobei sich aber zunächst zwei verschiedene Niveaus und nachfolgend zwei verschiedene Bereiche von Erscheinungen bezeichnen lassen:

Die Form wird den Kritzelformen, welche von der Motorik her bestimmt sind, gleichsam «übergestülpt» als Versuch des Visuellen, die ihm eigenen, auf die Wahrnehmung im Allgemeinen bezogenen Grundmuster in den erzeugten Bildern wieder zu finden. In dieser Auffassung stützt sich Kellogg direkt auf die Gestaltpsychologie, gemäss welcher die visuelle Wahrnehmung von solch allgemeinen Grundmustern geprägt wird. Die Autorin ist der Auffassung, dass sich die Zeichnung auf solche Grundmuster hin ausrichtet. Formen sind derart keine Spuren der Motorik, sondern «Spuren» der visuellen Wahrnehmung und ihrer grundlegenden Prinzipien.

Bemerkenswert an der Darstellung von Kellogg ist die Betonung des Ausmasses und der Eigenständigkeit ungegenständlicher Bilder von Kindern, vor und parallel zur Ausbildung des Gegenständlichen. Sie ist eine der wenigen Autorinnen und Autoren, welche die Entwicklung des Ungegenständlichen und des Gegenständlichen gleichwertig und parallel beschreibt und bewertet.

Zur Illustration der Eigenständigkeit ungegenständlicher Bilder siehe Bilderserien mit den Codeanfängen K-Q, K-R und K-S im Archiv von Kellogg.

Hinweise zur Vertiefung

  • Kapitel 6-03