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Teil 1 - Thematik, Ausgangslage - Stand der Kenntnisse

1-2-02: Konsens über allgemeine Grundzüge und Unterteilungen

Dreiteiliges Schema

Die Darstellungen der Ausdifferenzierung, Strukturbildung und Entwicklung früher graphischer Äusserungen in der bestehenden Fachliteratur folgen meistens dem Schema einer dreifachen Gliederung, versehen mit einem Zusatz:

Zum Teil findet sich in der Literatur auch das Schema einer zweiteiligen Gliederung ohne eigenständige zweite Phase (siehe dazu die Erläuterungen am Ende dieses Kapitels).

Sensomotorische Spuren

Die frühesten Zeichnungen von Kindern im Vorschulalter bilden gemäss diesem Schema die Anatomie und den Bewegungsapparat des Kindes ab. Deshalb erscheinen in den Zeichnungen zuerst Spuren von grobmotorischen Bewegungen, welche vor allem aus Ober- und Unterarm erfolgen. Später differenzieren sich die Bewegungen aus, weil die Kinder zunehmend fähig werden, mit Hand und Finger feinere Gesten auszuführen sowie Bewegungskonzepte und -abläufe zu entwickeln und zu erinnern. Immer aber bleibt das Motorische das Bestimmende, was sich in der häufig zitierten Formel «das Auge folgt der Hand» ausdrückt.

Diskrete Formen

Im Laufe der Entwicklung bilden sich gemäss dem genannten Schema einzelne, voneinander unterscheidbare Formen aus, welche ein so hohes Ausmass an visueller Führung der Hand verlangen, dass sie nicht mehr als motorische Abdrücke verstanden werden können. In der Regel wird der Wendepunkt in der Entwicklung von der motorischen Spur zur Form beim Auftreten der geschlossenen Form, bei der «Schliessung» der Linie, angesetzt. In der Literatur wird dann von einer «doppelten Kontrolle» der Bewegung gesprochen, von einer Kontrolle des Anfangs und des Endes einer Linie. Zugleich wird diese «doppelte Kontrolle» als ein Wechsel der Dominanz interpretiert, als ein Wechsel der Dominanz des Sensomotorischen zur Dominanz der visuellen Wahrnehmung dessen, was auf der Fläche erscheint. Dies drückt sich in der Formel «die Hand folgt dem Auge» aus. – Häufig wird auf den geometrischen Charakter solcher Formen in dieser Phase der graphischen Entwicklung hingewiesen, weil nach dem Auftreten der Schliessung der Linie eine Differenzierung in Ovale, Kreise, Rechtecke, Dreiecke und Entsprechendes beobachtet werden kann.

Zusatz: Beigefügte Bedeutungen

In diesen ersten beiden Phasen kommt es vor, dass die Kinder ihre Bilder bezeichnen, dass sie sagen, was die Bilder «darstellen». Gemäss der Literatur tun sie dies aber in der Regel im Nachhinein, und eine Analogiebildung im Sinne einer Ähnlichkeit von Zeichnung und Dargestelltem ist nicht zu finden. Letztere entsprechen deshalb in der Regel auch keiner Intention des Kindes beim Zeichnen. So kommt es, dass die «Bedeutungen» schnell wieder vergessen werden können oder dass sie sich ändern. In diesem Sinne werden den Zeichnungen Bedeutungen «beigefügt».

«Gegenstandsanaloge» Abbildungen («Kopffüssler», «Bildschema»)

Auf der Grundlage der Formen als eines «graphischen Vokabulars» wird es dem Kind im Laufe der Entwicklung möglich, über Zusammensetzungen einzelner Formen etwas darzustellen, eine Ähnlichkeit, eine Entsprechung zwischen dem visuellen Eindruck des Gezeichneten und einem sichtbaren Gegenstand oder einer sichtbaren Figur herzustellen.

Verschiedene Autorinnen und Autoren unterteilen das Aufkommen von «gegenstandsanalogen» Abbildungen in zwei Abschnitte, in eine Übergangsphase von ungegenständlichen zu gegenständlichen Zeichnungen und, nachfolgend, in die Etablierung eines Darstellungs- oder Abbildungsschemas.

Die ersten Analogiebildungen beziehen sich gemäss einem Grossteil der Literatur auf die Darstellung des Menschen, in der Form so genannter «Kopffüssler», als einzelne geschlossene Formen mit zwei oder vier wegführenden Strichen, für Beine und Arme. In der Folge wird der Übergang zur Darstellung häufig als «Kopffüsslerstadium» bezeichnet.

Die daran anschliessende Ausdifferenzierung von «gegenstandsanalogen» Abbildungen bezieht sich auf drei Aspekte:

Sind diese drei Aspekte erreicht – thematische Vielfalt der Darstellungen, gegenseitige Beziehungen (mit ihnen dargestellte Szenen) und der Tendenz nach systematische räumliche Orientierung des Dargestellten unter Einbezug der Ränder der Zeichenfläche –, so wird dies von einem Teil der Autorinnen und Autoren als «Geburt des Bildes» und zugleich als «Bildschema», genauer als «gegenstandsanaloges Bildschema», bezeichnet.

Die aufkommenden Darstellungen selbst werden als «schematisch» charakterisiert, wobei dieser Ausdruck sich auf drei Beobachtungen beziehen kann:

Einschub: Besondere Stellung der frühen Menschdarstellung

Wie oben angedeutet nimmt die Menschdarstellung nach Auffassung vieler Autorinnen und Autoren in der graphischen Entwicklung eine Sonderstellung ein. Anhand der Menschdarstellung, so die Auffassung, gelingen über einfache Zusammensetzungen von graphischen Einzelformen die ersten Analogiebildungen, in der Form so genannter «Kopffüssler». Dieser Ausgang und die weitere Entwicklung der Menschdarstellung lassen sich, die verschiedenen Darstellungen in der Literatur vereinfachend, wie folgt zusammenfassen:

Sowohl die Bezeichnung der frühesten Menschdarstellung als «Kopffüssler» wie die Interpretation der entsprechenden sehr häufig zu beobachtenden graphischen Erscheinung in frühen Zeichnungen von Kindern sind in der Literatur umstritten. Hinzu kommen Verweise auf alternative Möglichkeiten der Menschdarstellung. Dennoch haben sich in vielen Abhandlungen zur graphischen Entwicklung sowohl der sprachliche Ausdruck «Kopffüssler» wie der Stellenwert der Menschdarstellung als erstrangige frühe Abbildung bis heute gehalten. (Zur Literatur, siehe beispielsweise Meili-Dworetzki, 1957, Schoenmackers, 1996, Cox, 1993, 1996, Boyatzis, 2000, Greig, 2000, S. 33-79, Golomb, 2004, S. 37-56).

Hintergrund der Gliederung

Den Hintergrund dieser dargestellten allgemeinen Gliederung des Graphischen bildet ein Schema, welches die gesamte Entwicklung von Zeichnung und Malerei umfasst:

Alternative Bezeichnungen («prärepräsentational», «repräsentational»)

Frühe ungegenständliche graphische Äusserungen werden in der neueren Literatur in Anlehnung an zeichentheoretische Begriffe auch als «vor-» oder «prärepräsentational» bezeichnet und frühe Abbildungen entsprechend als «repräsentational» oder als «Repräsentationen». Werden zusätzlich erste früh aufkommende Analogiebildungen und ausdifferenzierte Abbildungen mit räumlichen Beziehungen unterschieden, so werden diese beiden Bereiche «früh-repräsentational» und «repräsentational» genannt.

Zusammenfassung

Die nachfolgende zusammenfassende Auflistung erlaubt einen Überblick über die derzeit wohl am weitesten verbreitete allgemeine Gliederung der Entwicklung. Verlässliche und genaue Altersangaben zu den einzelnen Phasen sind aus der Literatur allerdings nicht abzuleiten. Die folgenden Angaben sind deshalb nur als ungefähre Orientierungshilfen zu verstehen und lehnen sich im Wesentlichen an die Darstellungen von Widlöcher oder Richter an (siehe nachfolgende Kapitel):

Phase 1 – ab 12 Monaten
Spuren oder Abdrücke grober motorischer Bewegungen
Zeugnisse differenzierter motorischer Bewegungen und Bewegungsabläufe
Primat des Motorischen, «das Auge folgt der Hand»
ungegenständlich, prärepräsentational
Phase 2 – während des dritten Lebensjahres
Schliessung der Linie, geschlossene Formen
doppelte Kontrolle der Linie (Kontrolle von Anfang und Ende)
Ausdifferenzierung eines Ensembles von diskreten Formen, Formenvokabular
quasi-geometrische Formen wie Oval, Kreis, Rechteck, Dreieck und Entsprechendes
Primat des Visuellen, «die Hand folgt dem Auge»
ungegenständlich, prärepräsentational
Zusatz zu Phasen 1 und 2
beigefügte Bedeutungen (in der Regel nachträgliche und instabile Bezeichnungen von Dargestelltem, ohne dass
die Darstellungen in den Bildern selbst erkannt oder nachvollzogen werden können)
Phase 3 – ab 30 Monaten
Phase 3a – ab 30 Monaten
erste «gegenstandsanaloge» Zusammensetzungen von Formen
häufig als erste Menschdarstellungen (so genannte «Kopffüssler») auftretend
aufkommende Schematisierung (Verwendung weniger Formen als «Elementarisierung», zum Teil verbunden mit Geometrisierung; «vereinfachte» Art der Darstellung; Konstanz von Darstellungsarten)
Vorschemaphase
früh-repräsentational
Phase 3b – ab 42 Monaten
thematische Ausdifferenzierung verschiedener Darstellungen (Figuren, Gegenstände, Szenen)
Darstellung von gegenseitigen Beziehungen des Dargestellten
Darstellung räumlicher Beziehungen (insbesondere oben-unten; orthogonale Relationen), Einbezug der Blattkanten
Entwicklung der Schematisierung
Schemaphase, «gegenstandsanaloges» Bildschema, «Geburt des Bildes»
«intellektueller Realismus», «das Kind zeichnet, was es von den Dingen weiss»
repräsentational

Wichtige Kontroverse

In der Fachliteratur herrscht Unklarheit über die Eigenständigkeit und den Stellenwert der zweiten Phase, das heisst früher diskreter Formen. Vereinfachend gesprochen lassen sich drei verschiedene Positionen beschreiben.

Gemäss der ersten Position treten diskrete Formen, welche nicht von der Motorik her abgeleitet werden können, in direktem Zusammenhang mit ersten Analogiebildungen, insbesondere mit «Kopffüsslern», auf. Formen bestehen in dieser Interpretation nicht eigenständig, das heisst, die oben aufgeführten Phasen 2 und 3a fallen zusammen (exemplarisch erläutert von Golomb, 2002, 2004).

Gemäss der zweiten Position treten diskrete Formen eigenständig auf, aus der Differenzierung der Motorik über die zunehmende visuelle Kontrolle und Führung her entstehend. Diese Ausbildung von Formen stellt eine Vorbereitung für die nachfolgenden «gegenstandsanalogen» Abbildungen dar. Sie verlieren ihre eigenständige Bedeutung mit zunehmender Entwicklung des Darstellens beziehungsweise Abbildens, welches zum dominierenden Aspekt der Zeichnung und Malerei wird (exemplarisch erläutert von Widlöcher, 1965/1974; vgl. auch Richter, 1987).

Gemäss der dritten – allerdings eher selten eingenommenen – Position treten diskrete Formen nicht nur als eigenständige auf, sie sind darüber hinaus nicht reduzierbar auf eine vorbereitende Grundlage für die Darstellung, und sie behalten ihren eigenständigen Stellenwert auch nach der Ausbildung der «gegenstandsanalogen» Abbildungen, denn sie entwickeln sich parallel zu ihnen selbst weiter (exemplarisch erläutert von Kellogg, 1970; vgl. auch Stern, 1973/2009, 1978, 1996).