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Teil 1 - Thematik, Ausgangslage - Stand der Kenntnisse

1-2-04: Ausdifferenzierung, Strukturbildung und Entwicklung früher graphischer Äusserungen nach Widlöcher

Hintergrund

Hintergrund der Darstellung der frühen graphischen Entwicklung durch Widlöcher (1984) bildet eine grundlegende Einteilung der Entwicklung von Zeichnung und Malerei von Kindern und Jugendlichen, wie sie bereits 1927 von Luquet vorgelegt wurde und die nachfolgende Literatur stark prägte. Gemäss Luquet lassen sich vier Phasen der gesamten Entwicklung unterscheiden:

In der ersten Phase der graphischen Entwicklung beginnen die Kinder, Linien als Spuren zu hinterlassen. Der Sinn dieser Spuren liegt dabei ausschliesslich im Akt des Hinterlassens selbst. Die Kinder entwickeln aber bereits ein Bewusstsein dafür, dass ähnliche «Spuren», von anderen gezeichneten Linien, einen Gegenstand darstellen können. In diesem Sinne sind die frühesten Zeichnungen bezüglich ihres Realismus – ihrer Beziehung zu Gegenständen und Szenen – «zufällig», in ihnen kann kein Verhältnis von Zeichnung und Dargestelltem erkannt werden.

In der zweiten Phase versuchen die Kinder, erste Abbildungen zu erzeugen, was ihnen aber nur ansatzweise gelingt. Es mangelt den Kindern noch an einem entsprechenden synthetischen Vermögen, gleichzeitig die Einzelheiten eines Objekts und deren gegenseitige Beziehungen zueinander zu zeichnen. Die Entsprechung von Bildeigenschaften und Dargestelltem ist noch in vielen Aspekten «verfehlt». Bilder dieser Phase können entweder nur Einfaches und Weniges darstellen oder sie sind in ihrem Abbildungscharakter nur sehr beschränkt nachvollziehbar.

In der dritten Phase gelingt die Darstellung, sie wird auf einfache Weise visuell nachvollziehbar, und die Bilder werden «intelligibel». Die Abbildungen schliessen dabei alle nötigen einfachen und zugleich exemplarischen Elemente des dargestellten Gegenstands mit ein, so dass dieser identifiziert und verbal bezeichnet werden kann. In diesem Sinne ist das Verhältnis von Bildeigenschaften und Dargestelltem «intellektueller» Art.

In der vierten und letzten Phase gelingt die vollständige Darstellung, in dem Sinne, dass andere nicht nur verstehen, was abgebildet wird, sondern auch nachvollziehen können, welchen Standpunkt der Betrachtung die Abbildung mit einbezieht. Die Darstellung vermag nicht nur einsichtig zu machen, worauf sie sich bezieht, sondern auch, in welcher Beziehung zu einem tatsächlichen Sehen sie steht. Die Abbildungen entsprechen nicht nur den Gegenständen und Szenen, sondern auch einer bestimmten Art, sie zu sehen, sie sind beidem «ähnlich». In diesem Sinne ist die Beziehung von Bildeigenschaften und Dargestelltem «visueller» Art.

Der Bereich der frühen graphischen Äusserungen umfasst gemäss Luquet die ersten beiden Zeitabschnitte des «zufälligen» und des «verfehlten» sowie die Anfänge des «intellektuellen Realismus».

Überblick

Ausgehend von Luquet differenziert Widlöcher fünf verschiedene Arten früher graphischer Äusserungen und entsprechend fünf verschiedene zeitliche Abschnitte ihres Auftretens:

Diese fünf Arten früher Zeichnungen und Malereien seien in den folgenden Abschnitten erläutert, mit eingeschlossen die Angabe von Altersbereichen.

Beginn des zeichnerischen Ausdrucks

Ab sechs Monaten

Die ersten graphischen Erscheinungen entsprechen einem zufälligen Aufeinandertreffen einer Gebärde und einer Oberfläche, die sie festhält. Sie schliessen sowohl das Schmieren im Allgemeinen wie erste Spuren auf Papier mit ein. Mit ihnen entsteht ein Bewusstsein einer Beziehung von Ursache und Wirkung, von Gebärde und Spur. In Analogie zur verbalen Sprache können solche Spuren als «graphisches Plappern» bezeichnet werden.

Kritzeln

Ab 12 Monaten

In der ersten Hälfte des zweiten Lebensjahres sind die graphischen Erscheinungen durchgängig geprägt von der groben Motorik und der Entwicklung der Körperachse. Die graphischen Merkmale selbst werden gezeichnet, ohne dass dabei eine Bedeutung im Spiel steht.

In der zweiten Hälfte des zweiten Lebensjahres erscheinen graphische Differenzierungen als Ausdruck einer motorischen Entwicklung und Differenzierung:

Im Wesentlichen sind alle Bildmerkmale während des zweiten Lebensjahres als Ausdruck des Motorischen und seiner Entwicklung zu verstehen, wofür die Formel «das Auge folgt der Hand» steht.

Im dritten Lebensjahr erscheinen Bildmerkmale, welche nicht mehr hauptsächlich von einer motorischen Entwicklung her abgeleitet werden können und deshalb von einer ausgeprägten visuellen Kontrolle der Linienführung zeugen. War es dem Kinde bereits im zweiten Lebensjahr möglich, die Linie einer «einfachen» Kontrolle zu unterziehen, das heisst, ihren Anfang oder ihre Ausdehnung willkürlich zu setzen oder zu variieren, so erschliesst sich ihm neu eine «doppelte» Kontrolle von Anfang und Ende, was sich insbesondere in der Möglichkeit der Schliessung von Linien ausdrückt. Als Beispiele dieses Vermögens nennt Widlöcher folgende graphische Erscheinungen:

Im Unterschied zu den Erscheinungen des zweiten Lebensjahres sind nun die Bildmerkmale im Wesentlichen als Ausdruck der visuellen Kontrolle der Linienführung zu verstehen, was zur Formel «die Hand folgt dem Auge» führt. Alles steht nun für den Versuch des Kindes bereit, eine darstellende Zeichnung zu entwickeln. Zugleich lassen sich erste individuelle «Stile» des Graphischen beobachten.

Anfänge der darstellerischen Intention

Ab 18 Monaten

Parallel zur Entwicklung des Kritzelns treten erste Bezeichnungen von Bildteilen auf, erste verbale Äusserungen dazu, was das Gezeichnete oder Gemalte darstellen soll. Diese Bezeichnungen erfolgen oft erst im Nachhinein und entsprechen keiner tatsächlichen Beziehung, keiner tatsächlichen Analogiebildung eines Bildes zu Gegenständen oder Szenen und auch keiner konkreten Intention einer solchen während des Zeichnens. In einem derartigen «Beifügen» einer Bedeutung zu einem Bilde äussert sich die Ahnung des Kindes, dass Linien grundsätzlich ein symbolisches Vermögen besitzen, dass mit ihnen Informationen übermittelt werden können. Die graphische Fähigkeit, komplexe Formen zu entwickeln, verbindet sich mit der Fähigkeit, sie in eine Abbildungsbeziehung zu bringen, auch wenn diese erst später konkret vollzogen werden kann.

Von der zufälligen Intention bildlicher Darstellung zum «intellektuellen» Realismus

Ende des dritten Lebensjahres

Gegen Ende des dritten Lebensjahres, auf der Grundlage der Fähigkeit zur «doppelten» Kontrolle der Linienführung und der mit ihr möglich gewordenen Ausdifferenzierung eines Formenvokabulars, wird die Darstellung absichtlich: Einzelne graphische Elemente werden so miteinander verbunden, dass die Analogie zu Gegenständen oder Szenen nachvollziehbar wird, wobei das Hinzufügen oder Wegnehmen den abbildenden Sinn jeweils verändert. Sobald sich das Kind der – wenn auch anfangs nur vagen – Analogie zwischen einer Zeichnung und einem Gegenstand bewusst geworden ist, entsteht in kurzer Zeit ein darstellendes «Vokabular» und aus ihm ein ganzes System bildlicher Darstellung.

Kindlicher Realismus

Ab dem fünften Lebensjahr

Dieses erste System der bildlichen Darstellung besteht aus graphischen Schemata, welche Gegenstände und Szenen bezeichnen. Der Schematismus drückt sich sowohl in der Verwendung weniger graphischer Grundformen zur Darstellung sehr verschiedener Gegenstände oder Szenen wie durch das Wiederholen von immer gleichen Formkombinationen aus. Der Raum bildet dabei eine Art Hintergrund, auf welchem sich die Objekte aneinanderreihen.

Innerhalb dieses Systems zeichnen die Kinder dasjenige, was sie von den Dingen wissen: «Es ist nicht der Wunsch des Kindes, die Dinge so darzustellen, wie sie sind, sondern sie in der Weise zu gestalten, dass wir sie am leichtesten identifizieren können.» Die Bilder besitzen entsprechend einen ausgeprägten Erzählcharakter, ihr informativer Wert ist erstrangig, die graphischen Zeichen haben eine vorwiegend kommunikative Funktion. Die Bilder zeichnen sich weiter aus durch den Gebrauch exemplarischer Details, durch Verschiedenheit von Blickwinkeln sowie durch Typenbildungen.

Im Laufe der Entwicklung können verschiedene schematische «Stile» sich abfolgen respektive auseinander hervorgehen.

Wichtige Aspekte

Die Ausdifferenzierung, Strukturbildung und Entwicklung früher graphischer Äusserungen verläuft gemäss Widlöcher nach folgender Logik:

Bemerkenswert an diesem Ansatz ist die Erklärung des Formalen. Formen entstehen aus dem Motorischen (genauer wäre der Ausdruck des Graphomotorischen) und seiner Differenzierung heraus, indem diese Differenzierung zuerst visuell beobachtet und dann teilweise kontrolliert wird, bis in einer Steigerung des visuellen Einflusses das Motorische über die doppelte Kontrolle von Anfang und Ende der Linie «transzendiert» wird. Dieser Ort des Zusammentreffens von Anfang und Ende einer Schliessung der Linie stellt keinen Aspekt des Motorischen mehr dar. Er ist etwas, was nur gesehen werden kann. – Allerdings bleibt unerklärt, nach welchen Regeln sich das Formale in der Folge eigenständig ausdifferenziert.

Bemerkenswert ist auch die Auffassung, die Entwicklung eines Formenensembles sei im Wesentlichen eine Vorbereitung für die («gegenstandsanaloge») Abbildung. Für die Zeit nach dem Auftreten gegenständlicher Darstellungen, nach dem «Erreichen» des Realismus, erörtert Widlöcher keine eigenständige Weiterentwicklung des Formalen.