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Teil 6 - Diskussion

6-8: Bild und Bildgenese

Bilder – erzeugte Bilder – «fallen nicht vom Himmel». Sie sind nicht einfach da. Sie müssen erzeugt und zugleich erkannt werden. In diesem Sinne entstehen und entwickeln sie sich.

Wann in der menschlichen Entwicklung die ersten graphischen Äusserungen, die ersten erzeugten Bilder auftraten, welche Eigenschaften sie besassen und welchen Gang ihre Ausdifferenzierung nahm, liegt bis heute im Dunkeln. Mit Ausnahme weniger Einzelstücke sind für die Zeit vor 40 000 BCE keinerlei verlässliche Zeugnisse überliefert. (Für eine Übersicht über die frühesten Hinweise auf das Ästhetische siehe Lorblanchet, 1999; für ein zweifelsfrei graphisches Objekt um ca. 75 000 BCE siehe Henshilwood et al., 2002.) Und die Zeichnungen, Malereien, Ritzungen, Skulpturen und Objekte, welche das ästhetische Vermögen der Menschen für die Zeit nach 40 000 BCE dokumentieren, verweisen schon auf ein «Ende» der Entwicklung, dermassen weit sind in ihnen Motivik, zeichnerische und malerische Ausdrucksweisen und Techniken sowie perspektivische Projektion bereits ausdifferenziert. In Hinsicht auf die Phylogenese des Menschen ist also derzeit weder zu beschreiben noch zu erklären, wie Bilder entstanden sind und wie sie sich in ihrer Frühzeit entwickelt haben.

Bleibt die Ontogenese, die Entwicklung eines einzelnen Menschen, und die Bilder, welche in ihr erscheinen. Solche Bilder werden in der vorliegenden Studie dokumentiert und auf ihre Eigenschaften, Strukturbildungen und Entwicklungstendenzen hin untersucht. Noch steht die Prüfung aus, ob und in welchem Ausmass die dabei interpretierte frühe graphische Struktur allgemeinen Charakter besitzt. Dazu fehlen neben der kritischen Überprüfung der vorliegenden europäischen Studie und neben prozessualen Untersuchungen insbesondere verlässliche Kulturvergleiche. Sowohl Hinweise in der Literatur wie die ersten Ergebnisse eigener Untersuchungen lassen allerdings den empirischen Nachweis einer zumindest teilweisen Unabhängigkeit früher Bilder vom kulturellen Kontext, in welchem sie entstehen, erwarten. (Zu den Hinweisen in der Literatur siehe Kellogg, 1970, S. 208-225, Willats, 1997, S. 311-315, Matthews, 1999, S. 156-158, Richter, 2001, S. 35-88, sowie Golomb, 2004, S. 340-361; ausgedehnte eigene Kulturvergleiche früher graphischer Äusserungen sind derzeit im Gange.) Bestätigt sich die hier beschriebene frühe graphische Entwicklungsstruktur nicht nur in ihrem kritischen Nachvollzug und in prozessualen Studien, sondern auch im Kulturvergleich, so bekommt sie den Wert einer Referenz, welche über den als «westlich» bezeichneten kulturellen Kontext hinausreicht.

Bilder von Kindern haben in den Wissenschaften derzeit noch einen falschen Stellenwert. Sie werden in der Regel als Sache der Psychologie oder der Erziehung behandelt und finden darüber hinaus kaum je eine substanzielle Würdigung und eine Einbindung in andere und weiterführende Beobachtungen und theoretische Erörterungen. Die Bildgenese aber ist einer der wenigen einfachen Wege, grundlegende Fragen des Bildes, der Zeichen und der Ästhetik selbst anzugehen.

Die erste Frage nach dem Bild, so interpretieren wir die vorgeführten Dokumente, ist diejenige nach der Form, welche sich als flächige, als zweidimensional zu verstehende, erzeugen und entwickeln lässt. Die erste Bestimmung des Bildhaften liegt in diesem Formalen. Abbildungen, Beziehungen des Bildhaften zu anderem – zur sichtbaren Wirklichkeit, zu Vorstellungen, zu Gefühlen, zu Eindrücken und so weiter – sind Möglichkeiten, welche sich erst im Laufe der Entwicklung des Formalen eröffnen. Sie entsprechen einer ausserordentlich bemerkenswerten Leistung des Bildes, sind aber dennoch nicht das einzige und vielleicht auch nicht das vorherrschende Vermögen von Letzterem. Wie auch immer eine allgemeine Definition des Bildes aussehen soll, sie hat diese beiden Feststellungen mit zu berücksichtigen. Und wie auch immer eine Praxis des Bildermachens und des Bilderlehrens aussieht, sie tut gut daran, die gesamte Breite des Bildhaften anzuerkennen.

Wie ist es zu verstehen, dass in der Entwicklung eines Menschen graphische Formen überhaupt entstehen und dass ihre Ausdifferenzierung – so deutet sich dies an – einer Art Regel folgt? Viele Autorinnen und Autoren versuchen, wie bereits mehrfach erwähnt, frühe graphische Erscheinungen entweder auf die Sensomotorik oder aber auf allgemeine Strukturen der menschlichen Wahrnehmung zurückzuführen, um in dieser Weise zu erklären, welche Ursachen die immer gleichen Wirkungen erzeugen. Wir aber stehen einem solchen Versuch skeptisch gegenüber. Zwar ist offensichtlich, dass die jeweiligen Möglichkeiten eines Entwicklungsstandes der Feinmotorik der Hand diejenigen Grenzen setzen, innerhalb deren Bilder möglich sind und entstehen können. Darüber hinaus aber ist die Hand ein «freies» Organ, ihr ist es gerade gegeben, nur beschränkt unter dem Zwang von Körperbau und Funktionen zu stehen. Schon sehr frühe graphische Erscheinungen sind zudem der Bewegung als solcher «unangenehm», sie entstehen in einer Spannung oder Distanz zur Anatomie von Arm und Hand und zur noch unausgereiften Bewegung. Deshalb erscheinen sie so häufig als «ungelenk». Und spätestens bei der ersten Ausdifferenzierung von deutlich erkennbaren Anordnungen wird deren Erklärung als von der Sensomotorik her ableitbar mehr als fragwürdig. Umgekehrt entspricht die Abfolge des zeitlichen Auftretens einzelner Formen in der graphischen Entwicklung wohl kaum einer hierarchischen Ordnung der Elemente der visuellen Wahrnehmung, wenn denn graphische Formen und Elemente der allgemeinen Struktur der Wahrnehmung überhaupt vergleichbar sind. Wenn sich diese Skepsis bestätigt, weshalb dann nicht eine dritte Möglichkeit bedenken: Bilder entstehen durch das Aufmerksamwerden auf das Zweidimensionale. Nicht nur auf ein einzelnes Zweidimensionales, sondern auf das Zweidimensionale als solches. Diese Aufmerksamkeit aber verlangt nach einer Produktion, verlangt danach, Bilder herzustellen. Die frühesten Erscheinungen zeugen dann von den sich eröffnenden Möglichkeiten des Flächigen. Sie folgen einer Regel, weil das Zweidimensionale eine ihm eigene Struktur besitzt, und die Bildgenese zeugt von der Einsicht in diese Struktur. Darin liegt der oder zumindest ein möglicher Anfang der bildhaften Erkenntnis.

Was wirkungslos bleibt, wenn es nicht erkannt wird, ist ein Zeichen. Wie sollte man es auch anders benennen. Wenn Bilder von einer ihnen eigenen Art des Erkennens zeugen, gehören sie dazu.

Die graphische Form macht also den Anfang des Bildes. Und damit vielleicht auch den Anfang des Ästhetischen an oder von ihm. So gesehen würde dieses Ästhetische nicht mit einem wertenden Urteil beginnen, sondern als bildhafte Erkenntnis für sich. Der empfundene Wert wäre diese Erkenntnis. Nicht gute oder schlechte, schöne oder hässliche, wahre oder falsche Bilder ständen am Anfang, sondern das Bildhafte selbst. Dieses aber muss gemacht, angesehen und erkannt werden.