openopen
vorhergehendes Kapitelvorhergehendes Kapitelvorhergehendes Kapitelvorhergehendes Kapitel
nachfolgendes Kapitelnachfolgendes Kapitelnachfolgendes Kapitelnachfolgendes Kapitel
closeclose
Teil 6 - Diskussion

6-7: Frühe Bilder und Bildung

«Die Genese entspringt jener legendären Spannung, die Johannes Itten in seiner Gestaltungs- und Formenlehre vorbildlich thematisiert. Innen und / oder Aussen werden von Fall zu Fall sinnstiftend verbunden oder getrennt, wobei wiederum im Moment der Spannung als Synkretismus, Ursache und Wirkung eben noch nicht voneinander getrennt sind! Bilder halten sich nicht – wie die Sprache suggeriert – an ein einheitliches und in sich geschlossenes Referenzsystem. Bilder sind prä-positional und post-nominal strukturiert. Sie können im Verlaufe einer einfachen Linie das Referens durchaus wechseln, auch wenn Hand und Stift die Linie nicht verlassen. Das Auge kann bei der Linie bleiben und damit die Beziehung zu weiteren Linien aufnehmen oder verführt sein, mit dem Horizont zu liebäugeln.» (Heiz, 2009, S. 15-16)

Die Praxis der Ästhetischen Bildung als solcher ist umfassend nicht aus wissenschaftlichen Erkenntnissen ableitbar und begründbar. Sie ist dazu zu vielfältig und in wichtigen Aspekten einer nachvollziehbaren und verallgemeinerbaren Analyse unzugänglich. 

Umgekehrt vermögen wissenschaftliche Studien aber einige Grundsätze zu klären, welche in der Praxis selbst häufig vage bleiben, aber von erstrangiger Bedeutung sind. Dazu gehören insbesondere auch Grundsätze, wie sie aus der Beschreibung der graphischen Entwicklung abgeleitet werden können. Auf sie und ihre Bedeutung für die Praxis der frühen Ästhetischen Bildung soll nachfolgend eingegangen werden, wiederum unter Einbezug zusätzlicher Erfahrungen der Untersuchung des graphischen Prozesses, auch wenn deren Ergebnisse im Einzelnen noch nicht veröffentlicht sind. 

Was ausgehend von einer allgemeinen graphischen Entwicklung her für die frühe bildhafte Ästhetik abgeleitet werden kann, gilt gleichermassen auch für ihre Bildung:

Hinzu kommen folgende für die bildhafte Praxis wichtigen Grundsätze:

Diese Feststellungen lassen keine Methodik für die frühe Ästhetische Bildung ableiten, aber sie stellen Anforderungen an eine solche. 

Der eine Teil der Anforderungen gilt den Kenntnissen der Erwachsenen, welche in der Ästhetischen Bildung tätig sind, selbst. Die Erwachsenen müssen die grundsätzlichen Aspekte des frühen Bildhaften, seiner Entwicklung und seines prozessualen Charakters verstehen, sie müssen in der morphologischen Analyse früher Bilder geschult sein und die grundlegenden sprachlichen Ausdrücke, welche sich auf das Graphische beziehen, geklärt haben. Zudem sollten sie sich der jeweiligen kulturellen Auffassung von Bildern, und mit ihr von frühen Bildern, bewusst sein. 

Der andere Teil der Anforderungen gilt der konkreten Praxis der Ästhetischen Bildung und bezieht sich auf den Versuch, die jeweiligen Vorgehensweisen in eine Entsprechung zum Charakter des frühen Bildhaften zu bringen. Von erstrangiger Bedeutung sind dabei die nachfolgend aufgeführten Aspekte, welche in der Form von Thesen formuliert sind und welche den Bildungsanspruch einer Praxis des Ästhetischen zum Ausdruck bringen sollen. 

Die Ästhetische Bildung betreibt keine grundsätzliche Gleichsetzung des Bildhaften mit anderen Arten des zeichenhaften und ästhetischen Verhaltens. Sie erfolgt im Gegenteil aus dem Bewusstsein heraus, dass das Bildhafte zumindest teilweise einer eigenständigen «Logik», Systematik und Entwicklung folgt. 

Die Ästhetische Bildung betreibt keine grundsätzliche Hierarchisierung von Arten des Bildhaften. Im Gegenteil bestätigt und bestärkt sie die mögliche und jeweils aufkommende Verschiedenartigkeit des Bildhaften, bis hin zu einem aufkommenden Bewusstsein der Kinder für diese mögliche Vielfalt. Dazu gehört ganz wesentlich, dass die Tendenz, nach Abbildern zu fragen und sie derart in den Vordergrund zu stellen, ausser Kraft gesetzt wird. In der Folge verhält sich die Ästhetische Bildung auch kritisch gegenüber einem zu grossen Gewicht von thematischen Vorgaben, ja kritisch gegenüber einem zu grossen Gewicht der zeitlichen Trennung von bildhafter Intention und ihrer Ausführung überhaupt. 

Die Ästhetische Bildung betreibt keine grundsätzliche Hierarchisierung von Produkt und Prozess. Im Gegenteil bestätigt und bestärkt sie den direkten Zusammenhang von bildhaftem Prozess und in ihm aufkommenden graphischen Erscheinungen und inszeniert dafür geeignete Formen und Abläufe. Sie ist sich damit der ausserordentlichen Bedeutung des Bildprozesses für die bildhafte Erkenntnis bewusst, weil eine Differenzierung dieser Erkenntnis weitgehend von der Tätigkeit der Kinder abhängt und ausserhalb von ihr nur in sehr beschränktem Masse gewonnen werden kann. Dazu gehört, dass die Tendenz, «fertige» Bilder unabhängig von ihrer Erzeugung zu bewerten, ebenfalls ausser Kraft gesetzt wird.

Die Ästhetische Bildung betreibt keine grundsätzliche Hierarchisierung von Konstruktion und Expression. Sie geht nicht davon aus, dass frühe Bilder immer ein vorgängiges Gefühl oder eine Stimmung «abbilden» – so wenig sie wie erwähnt davon ausgeht, dass grundsätzlich vorgängige Intentionen oder Ideen realisiert werden. Im Gegenteil bestätigt und bestärkt sie den direkten Zusammenhang und die gegenseitige Motivation des bildhaften Produzierens und des sich gleichzeitig gliedernden Wahrnehmens, Erlebens, Assoziierens, Erkennens und Phantasierens und inszeniert auch dafür geeignete Formen und Abläufe.

Die Ästhetische Bildung betreibt keine grundsätzliche Gleichsetzung der beiden Vermögen der Bilderzeugung und der Bildwahrnehmung. Im Gegenteil bestätigt und bestärkt sie die zunehmende Spannung der beiden Fähigkeiten, bis hin zu einem aufkommenden Bewusstsein des zentralen Stellenwerts dieser Spannung für den ästhetischen Ausdruck überhaupt. 

Die Ästhetische Bildung betreibt keine grundsätzliche Opposition von Bildhaftem und Verbalem, in dem Sinne, dass über das sichtbar Erzeugte nicht geredet werden kann oder soll. Sie betreibt aber auch keine allgemeine Festlegung des gegenseitigen Verhältnisses von Bildhaftem und Verbalem, in dem Sinne, dass das sichtbar Erzeugte grundsätzlich erschöpfend bezeichnet und erläutert werden kann. Im Gegenteil bestätigt und bestärkt sie die verschiedenen möglichen verbalen Verhaltensweisen während der Bildproduktion und, nachher, zu den Bildern selbst, bis hin zur Entwicklung einer eigentlichen Fähigkeit des verbalen Ausdrucks angesichts des Ästhetischen. – Und was für die verbale Sprache gilt, gilt auch für die anderen möglichen Verhaltensweisen dem Bildhaften gegenüber. 

Zu solchen Ansprüchen an eine Praxis des frühen Zeichnens und Malens führt die Beobachtung früher Bilder und ihrer Produktion, wenn denn diese Praxis eine Bildung anstrebt und tatsächlich und ausdrücklich auf Bilder und ihre Genese eingehen will.