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Teil 1 - Thematik, Ausgangslage

1-1: Allgemeine Thematik

Thematik

Wie erscheinen, «entstehen» Bilder? Welche Eigenschaften, Strukturbildungen und Entwicklungstendenzen lassen sich in frühen graphischen Äusserungen beobachten? Worin besteht frühe bildhafte Erkenntnis und Ästhetik? Auf welche Bestimmungen von «Bild» oder «Bildern» und auf welche allgemeinen Aspekte des frühen symbolischen Verhaltens verweist die Bildgenese?

Die Untersuchung früher graphischer Äusserungen, die Untersuchung von Zeichnungen und Malereien von Kindern im Vorschulalter, stellt, als ontogenetische Perspektive, einen der wenigen Wege dar, auf diese Frage der Bildgenese einzugehen.

Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wird die Thematik innerhalb des Bereichs der so genannten «Kinderzeichnung» abgehandelt, wobei die Beschreibung bildhafter Merkmale häufig als «Morphologie» (formale Aspekte der Bilder betreffend) oder als «Strukturanalyse» bezeichnet und in der Regel der Entwicklungspsychologie oder den Erziehungswissenschaften zugeordnet wird. – Es steht aber zur Frage, ob die Beschreibung der Ausdifferenzierung, der gegenseitigen Verhältnisse (Strukturbildung) und der zeitlichen Abfolge (Entwicklung) bildhafter Merkmale nicht zur Bildwissenschaft und zur Zeichentheorie zu zählen wären und die entwicklungspsychologische oder pädagogische Auslegung davon nur zwei von mehreren und zugleich nachfolgenden Untersuchungen darstellen.

Häufig wird die Behandlung früher graphischer Äusserungen mit einer psychologischen Analyse assoziiert: Wer «Kinderzeichnungen» untersuche, so die verbreitete Ansicht, analysiere deren «Bedeutung» im Sinne eines psychischen Ausdrucks der Kinder und ziehe von da aus Rückschlüsse auf ihre Persönlichkeit, ihren Charakter oder ihre psychische Verfassung. Diese Meinung entspricht aber einem Missverständnis. Die Beschreibung früher graphischer Äusserungen an und für sich hat mit einer tiefenpsychologischen Deutung nichts zu tun.

Frühe graphische Äusserungen von Kindern – die Bildgenese aus ontogenetischer Sicht – erlauben bis heute wahrscheinlich den direktesten und verlässlichsten Zugang zur Bildgenese als Ganzem, weil diese Äusserungen vorhanden sind, dauern und also untersucht und weiter überliefert werden können. Die bis heute überlieferten prähistorischen Bilder – um auf die kulturhistorische Sicht hinzuweisen – stellen mit wenigen und schwer interpretierbaren Ausnahmen einen bereits sehr entwickelten Stand an zeichnerischen und malerischen Fähigkeiten und mit ihnen an graphischen und ästhetischen Eigenschaften dar, die hinsichtlich der graphischen Anfänge nicht als sehr frühe Manifestationen bezeichnet werden können. Anhand von ihnen ist also die Bildgenese und frühe Bildentwicklung empirisch (noch) nicht anzugehen. – Es ist diese Lücke in der kulturellen Überlieferung, die zu einer zumindest vorläufigen Gleichsetzung der Untersuchung früher Bilder mit der Untersuchung früher Kinderzeichnungen führt. Damit entsteht aber die Gefahr eines thematischen Missverständnisses. Die genannte Gleichsetzung wird vollzogen, um eine empirische Untersuchung überhaupt zu ermöglichen. Dennoch steht nicht das «Kindliche» der Zeichnungen und Malereien, sondern die «unterste» Struktur des Graphischen und des ihm entsprechenden Ästhetischen im Vordergrund.

Besonderheiten des Gegenstands

Graphische Äusserungen stellen – historisch gesehen – keine Tätigkeit dar, die alle Menschen notwendigerweise entwickelt haben oder entwickeln müssten. Zum einen sind solche Äusserungen, ihre Entwicklung und ihre Ausdifferenzierung oft abhängig von spezifischen Materialien (Instrumente, flache Unterlage) und entsprechenden Kenntnissen und Fähigkeiten, zum anderen scheint die existenziell notwendige Kommunikation aller Menschen einer sozialen und kulturellen Gruppe durch die verbale Sprache weitgehend abgedeckt.

Gleichsam im Gegensatz dazu sind graphische Fähigkeiten – wiederum historisch gesehen – zur Entwicklung der Kulturen im Allgemeinen fundamental. In der Entwicklung der modernen Kultur nehmen sie eine mehrfache Schlüsselstellung ein: Durch sie entwickelten sich eigenständige Kunstgattungen; durch sie wurde die verbale Kommunikation in der Schrift überlieferbar; durch sie wurde der Raum in der perspektivischen Darstellung ausmessbar, mit ihnen entstand und entwickelte sich die Wissenschaft.

Heute sind Visualisierungen für Technik und Wissenschaft unerlässlich und prägen wichtige Teile unserer allgemeinen Kommunikation. «Bilder» sind denn auch zu einer eigenständigen und gewichtigen Thematik innerhalb der Wissenschaft geworden (siehe insbesondere die Auseinandersetzungen zu «Pictorial Turn», Mitchell, 1986, 1995, «Iconic Turn», Boehm, 1994, «Bildwissenschaft», vgl. zur Übersicht Sachs-Hombach, 2005).

Die Ausbildung graphischer Fähigkeiten stellt derart einen der wichtigen Untergründe und Voraussetzungen der modernen Kulturen und der in ihr herrschenden Kommunikationsarten dar – und dennoch ist ihr Charakter schlecht bestimmbar. Insbesondere lässt sich für das Bildhafte keine offensichtliche Zeichenstruktur finden, wie sie in der verbalen Sprache besteht.

Kennzeichen der verbalen Sprache ist ihre doppelte Gliederung (Saussure, 1916, 1994) und die damit verbundenen weitgehend strengen semantischen (auf die Bedeutung bezogenen) und syntaktischen (Merkmale der Zeichen selbst betreffenden) Gesetzmässigkeiten: Die verbale Sprache lässt sich in zwei Arten von Elementen gliedern, in Phoneme (bedeutungslose Lauteinheiten) und Morpheme (kleinste bedeutungsvolle Lautkomplexe, selten auch bedeutungsvolle Lauteinheiten). Aus diesen Elementen und den Regeln ihrer Zusammensetzung und Abfolge setzt sich im Wesentlichen die verbale Sprache zusammen. Die Sprache ist dementsprechend in ihrer Struktur beschreibbar und analysierbar. Eine ähnlich strenge Elementarisierung und Systembeschreibung ist nun für Bilder nicht möglich. Die Bestimmung des Bildes als wissenschaftlicher Untersuchungsgegenstand wird dadurch schwierig, was in den derzeitigen Kontroversen um eine «Bildwissenschaft» zum Ausdruck kommt.

Wie als Gegensatz zu dieser Problematik scheint es, als würde die Herausbildung des Graphischen (ablesbar in frühen Kinderzeichnungen) einer allgemeinen Gesetzmässigkeit folgen. Zumindest verführen Ähnlichkeiten der formalen Strukturen von Kinderzeichnungen, Ähnlichkeiten der Motive und der Arten des Bildaufbaus sowie Ähnlichkeiten der Raumdarstellung und Farbverwendung, wie sie heute innerhalb der nordamerikanischen und europäischen Kultur beobachtet werden können und in der Literatur dargestellt werden, zu einer solchen Annahme. Bei der genaueren Bestimmung solcher Gesetzmässigkeiten stellen sich aber wiederum grosse Hindernisse: In welcher Weise können entsprechende begriffliche Voraussetzungen gebildet werden? Woher lässt sich eine allgemeine und verbindliche Methodik ableiten? Wie lassen sich Elementarisierungen, Typen- und Strukturbeschreibungen überhaupt in sinnvoller Weise vornehmen angesichts der enormen Zahl von zu untersuchenden Bildern, angesichts der real erscheinenden Vielfalt an individuellen Ausformungen von Figuren, Motiven und Strukturen, mit eingeschlossen all ihre fliessenden Übergänge und vagen gegenseitigen Zusammenhänge?

Löst man sich von diesen theoretischen Überlegungen und betrachtet man die graphischen Äusserungen der Kinder im Alltag, so ist es offensichtlich, dass die meisten Kinder ausgiebig zeichnen und dass diese Tätigkeit eine grosse Bedeutung für ihre emotionale und intellektuelle Entwicklung wie für das Erlernen der Kulturtechniken einnimmt. Das bildhafte Gestalten scheint ein Grundverhalten des ästhetischen Ausdrucks zu sein und stellt einen eigenständigen Bereich der Symbolisierung dar.

Besonderheiten der Bezeichnung

Frühe graphische Äusserungen, Zeichnungen und Malereien von Kindern, werden in der Regel als «Kritzeleien» bezeichnet, verstanden und entsprechend behandelt, vor allem dann, wenn sie nichts «abbilden». Mit dieser Benennung geht einher, dass ihnen wenig Wert beigemessen wird, weil sie hauptsächlich als «motorische» Äusserungen mit «wenig Bewusstsein» aufgefasst werden. Entsprechend selten vermögen Erwachsene die Merkmale in den Bildern von Kindern im Einzelnen wahrzunehmen und zu differenzieren.

Als Bezeichnung für eine vertiefte Auseinandersetzung mit frühen Bildern und insbesondere für wissenschaftliche Untersuchungen erachten wir die Ausdrücke «Kritzeleien» und «Kritzeln» aber als unangebracht, weil missverständlich und ohne klare Bedeutung. Wir vermeiden sie deshalb und verwenden dafür den Ausdruck «Frühe graphische Äusserungen» als Oberbegriff für frühe bildhafte Erscheinungen (vgl. dazu Kapitel 2-1-01).

Hinweise zur Vertiefung

  • Band 3, Teil 7