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Intermezzo

I-6: Richter – Aussen und Innen oder potentielle Universalität

Unzweifelhaft lassen sich auch in den Zeichnungen der Mahafaly-Kinder, die noch als traditionell gekennzeichnet werden können [...], bestimmte Entwicklungsstadien erkennen. Wir legen besonderen Wert auf die Feststellung, dass sich in den frühen Ereignissen auch der Übergang von aktional-gestischen zu präfigurativen und figurativen Formationen [...] abzeichnet, weil dieser Teil der zeichnerischen Entwicklung in anderen Studien häufig übersehen oder zu Gunsten tatsächlicher oder vorgegebener kultureller Phänomene missachtet wird [...]. Wir konnten also zu Beginn des zeichnerischen Geschehens – auch bei Kindern, die bisher nie oder nur selten gezeichnet und kaum "Vorbilder" im westlichen Sinne kennengelernt hatten – einen differenzierenden graphischen Ablaut mit dem Resultat von Zeichenbildungen beobachten, der sich in Richtung auf eine Form möglicher Darstellungen von Menschen und Gegenstanden bewegt. Diese Bildzeichen beziehen sich auf interne Repräsentationen, die von besonderen Wahrnehmungsaktivitaten (Paget) getragen werden: von einer besonderen Gestik und Mimik und anderen ("tänzerischen") Bewegungsabläufen sowie auch von der andersartigen Kleidung und dem (für uns) fremden Ambiente. Zu diesen u.a. Wahrnehmungsaktivitäten kommen die bildhaften Auswirkungen auf die Kommunikation in einer anderen Sprache, deren Aufbau und Metaphorik wir nur schwer nachvollziehen können sowie die bildnerischen Reaktionen auf die Struktur anderer sozialen Regeln, anderer Bindungs- und Beziehungsformen usw. Bei all diesen Unterschieden weisen diese frühen bildnerischen Ereignisse dennoch vergleichbare Entwicklungsstadien und Entwicklungsformen auf wie die Darstellungen westlicher Kinder in diesem Alter. Zumindest in diesem Teil der figurativen Entwicklung lassen sich also die Zeichenbildungen als Resultat der aufgeschobenen Nachahmung ansehen, die das Kind nach den ersten 18 Monaten befähigt, interne Repräsentationen von externen Referenzobjekten zu bilden und sie in Form von Vorstellungsbildern zu speichern. Nach der Konstituierung der sensomotorischen Intelligenz, die sich in dem vorhergehenden Stadium entwickelt hat und die sich noch in einem engem Kontakt mit den Objekten selbst entfaltet, löst sich um diese Zeit die aktuelle Handlung von dem Objekt und das Kind wird fähig, eine Anzahl von Vorbildern innerlich nachzuahmen (Paget 1969, S. 84). Die sensomotorische Intelligenz druckt sich – noch lange, nachdem sie in den Aufbau der fruhen kognitiven Operationen integriert worden ist 158 – im zeichnerischen Geschehen in Form von Kritzelakten, präfigurativen Ereignissen bis hin zu minimalisierten Zeichenbildungen aus. Mit den zeichnerischen Resultaten der aufgeschobenen Nachahmung beginnt dagegen für das Kind die Periode der Repräsentation, die wir auch den Bildern der Kinder von traditionellen Kulturen zuerkennen müssen und auch erkennen konnten.

Mit diesen Feststellungen, dass der Vergleich der frühen zeichnerischen Äusserungen bis hin zu den Kopffüsslern und vergleichbaren Bildgegenstanden sowie den Organisationsformen in den Zeichnungen dieser Kinder einer traditionellen Kultur mit den konventionellen Zeichnungen westlicher Kinder zwar Formvarianten, aber keine grundsätzlich anderen graphischen Modelle zu Tage fördert, räumen wir zumindest für die Sequenzen des prälogischen Denkens der sog. Stadientheorie von J. Paget [...] die herausragende Möglichkeit ein, die Entstehung der frühen zeichnerischen Werdeformen (Salber) als graphische Manifestatlonen einer universalen kognitiven Entwicklung und Vorstellungsbildung zu verstehen.“ (Richter, 2001, S. 306-308)