openopen
previous chapterprevious chapterprevious chapterprevious chapter
next chapternext chapternext chapternext chapter
closeclose
Intermezzo

I-14: Eco – Figuren, Zeichen und ikonische Aussagen

"Figuren, Zeichen und ikonische Aussagen. I. 1. Es ist falsch, zu glauben, l) daß jeder Kommunikationsakt auf einer den Codes der verbalen Sprache ähnlichen 'Sprache' basiere; 2) daß jede Sprache zwei fixe Gliederungen haben müßte. Und es ist fruchtbarer, wenn man annimmt, l) daß jeder Kommunikationsakt auf einem Code basiert; 2) daß nicht jeder Code unbedingt zwei fixe Gliederungen hat (daß er nicht zwei hat; daß diese nicht fix sind).
Luis Prieto (1966) erinnert in einer Untersuchung dieser Art daran, daß die 'zweite Gliederung' die Ebene derjenigen Elemente ist, die keine Faktoren der von den Elementen der ersten Gliederung denotierten Bedeutung darstellen, sondern nur unterscheidenden (Stellen- und Oppositions-) Wert haben; und er nennt diese Elemente Figuren (da man sie, wenn man das Modell der verbalen Sprache verläßt, nicht mehr Phoneme nennen kann); die Elemente der ersten Gliederung (Moneme) sind dagegen Zeichen (die eine Bedeutung denotieren oder konnotieren).
Prieto nennt dagegen Sem ein besonderes Zeichen, dessen Signifikat nicht einem Zeichen entspricht, sondern einer Aussage der Sprache. Das Verkehrsschild, das die Fahrtrichtung untersagt, z. B., das uns zwar als ein visuelles Zeichen mit einer unzweideutigen Bedeutung erscheint, kann nicht in Beziehung gesetzt werden zu einem äquivalenten verbalen Zeichen, sondern zu einer äquivalenten Aussage ('Fahrtrichtung untersagt' oder 'Verboten, auf dieser Straße in dieser Richtung zu fahren'). Auch die gröbste Silhouette eines Pferdes entspricht nicht nur dem verbalen Zeichen 'Pferd', sondern einer Reihe von möglichen Aussagen vom Typ: 'stehendes Pferd im Profil', 'das Pferd hat vier Beine', 'das ist ein Pferd' usw.
Wir haben also Figuren, Zeichen und Seme (oder ikonische Aussagen) vor uns, und wir werden im folgenden merken, daß alle angeblichen visuellen Zeichen in Wirklichkeit 'Seme' sind. (Fussnote: Wir sprechen von nun an lieber von 'ikonischer Aussage' als von 'Sem', da der Terminus 'Sem' in der Semantik sowohl für 'semantisehe Einheit' als auch für 'Bestandteil einer semantischen Einheit' oder 'semantischer Zug' gebraucht wird. Prietos 'Sem' entspricht einer komplexen Kette von semantischen Einheiten, die aus vielen semantischen Zügen und Bestandteilen besteht. Wo wir uns auf den Text von Prieto beziehen, schreiben wir 'Sem' in Anführungszeichen.)
Nach Prieto ist es möglich, 'Seme' zu finden, die zwar in Figuren, nicht aber in Zeichen zerlegt werden können; d. h. sie können in Elemente mit unterscheidendem Wert zerlegt werden, die jedoch für sich keine Bedeutung haben." (Eco, 1972, S. 236–237)

"Es genügt, wenn man sagt, daß der ikonische Code auf der Ebene der Figuren Größen als relevante Züge wählt, die einen analytischeren Code, den Wahrnehmungscode, betreffen. Und daß seine ZEICHEN nur dann denotieren, wenn sie im Kontext einer IKONISCHEN AUSSAGE stehen." (Eco, 1972, S. 244)

"Zusammenfassend stellen wir also folgende Klassifizierung auf:
1) Wahrnehmungscodes: Sie werden von der Wahrnehmungspsychologie untersucht. Sie bestimmen die Bedingungen für eine ausreichende Wahrnehmung.
2) Erkennungscodes: Sie strukturieren Blöcke von Wahrnehmungsbedingungen in 'ikonischen Sätzen' – die Bedeutungsblöcke sind (z. B. schwarze Streifen auf weißem Fell) –, auf Grund deren wir wahrzunehmende Gegenstände erkennen oder wahrgenommene Gegenstände erinnern. Auf Grund dieser Codes werden oft die Gegenstände klassifiziert. Sie werden von der Psychologie der Intelligenz, des Gedächtnisses oder des Lernens oder auch von der kulturellen Anthropologie untersucht (sh. die Arten der Taxonomie in primitiven Kulturen).
3) Obertragungscodes: Sie strukturieren die Bedingungen, die die Sinneswahrnehmung ermöglichen, die man für eine bestimmte Wahrnehmung von Bildern braucht. z. B. das Raster einer Druckphotographie oder den Zeilenstandard, der das Fernsehbild ermöglicht. Sie sind analysierbar auf der Grundlage der physikalischen Informationstheorie, aber sie bestimmen, wie man eine Sinneswahrnehmung übertragen kann, nicht aber eine schon vorgefertigte Wahrnehmung. Indem sie das 'Korn' eines bestimmten Bildes festlegen, beeinflussen sie auch die ästhetische Beschaffenheit der Botschaft und bereichern die tonalen Codes, die Geschmackscodes, die stilistischen Codes und die Codes des Unbewußten.
4) Tonale Codes: So nennen wir das System von fakultativen Varianten, die schon konventionalisiert sind; die 'suprasegmentalen' Züge, welche besondere Intonationen des Zeichens konnotieren (wie 'Stärke', 'Spannung' usw.); und eigentliche Systeme von schon stilisierten Konnotationen (wie z. B. das 'Anmutige' oder das 'Expressionistische'). Diese Konventionssysteme begleiten als hinzugefügte und komplementäre Botschaft die Elemente des eigentlichen ikonischen Codes.
5) Ikonische Codes: Meistens basieren sie auf wahrnehmbaren Elementen, die auf Grund von Übertragungscodes realisiert werden. Sie gliedern sich in Figuren, Zeichen und Aussagen.
a) Figuren: Sie sind Wahrnehmungsbedingungen (z. B. Beziehungen von Figur und Hintergrund, Lichtkontraste, geometrische Verhältnisse), die nach den vom Code aufgestellten Modalitäten in graphische Zeichen transkribiert worden sind. Eine erste Hypothese besagt, daß diese Figuren zahlenmäßig nicht endlich und nicht immer diskret sind. Daher erscheint die zweite Gliederung des ikonischen Codes als ein Kontinuum an Möglichkeiten, aus dem soundsoviele individuelle Botschaften hervorgehen, die wohl auf Grund des Kontextes entziffert werden können, die aber nicht auf einen genau bestimmten Code zurückgeführt werden können. Tatsächlich ist der Code noch nicht erkennbar, aber daraus ist nicht abzuleiten, daß es ihn nicht gibt. Denn wenn die Beziehungen zwischen Figuren über einen bestimmten Punkt hinaus verändert werden, dann werden die Wahrnehmungsbedingungen nicht mehr denotiert. Eine zweite Hypothese könnte die folgende sein: Die westliche Kultur hat schon eine Reihe von relevanten Zügen jeder möglichen Abbildung entwickelt: die Elemente der Geometrie. Durch eine Kombination von Punkten, Linien, Kurven, Kreisen, Winkeln usw. werden alle möglichen Figuren erzeugt – sei es auch nur durch eine ungeheure Anzahl von fakultativen Varianten. Die euklidischen stoicheia sind also die Figuren des ikonischen Codes. Die Verifizierung beider Hypothesen ist nicht Aufgabe der Semiotik, sondern der Psychologie – in der spezifischeren Form einer 'experimentellen Ästhetik'.
b) Zeichen: Sie denotieren mit konventionalisierten graphischen Mitteln Erkenntniseinheiten (Nase, Ohr, Himmel, Wolke) oder 'abstrakte Modelle', Symbole, Begriffsdiagramme des Gegenstandes (die Sonne als Kreis mit fadenförmigen Strahlen). Oft sind sie schwer zu analysieren innerhalb eines 'Sems', da sie sich als nicht-diskret in einem graphischen Kontinuum darstellen. Sie sind nur auf der Grundlage des 'Sems' als Kontext erkennbar.
c) Ikonische Aussagen (von Prieto 'Seme' genannt): Diese sind uns gewöhnlich unter dem Namen 'Bilder' oder sogar 'ikonische Bilder' bekannt (ein Mann, ein Pferd usw.) Sie stellen in Wirklichkeit eine komplexe ikonische Aussage dar (vom Typ: 'dies ist ein stehendes Pferd im Profil' oder auch: 'hier ist ein Pferd'). Sie sind am leichtesten katalogisierbar, und ein ikonischer Code beschränkt sich oft auf diese Ebene. Sie bilden den Kontext, der es gegebenenfalls erlaubt, ikonische Zeichen zu erkennen; sie sind also deren Kommunikationsumstand und stellen gleichzeitig deren System dar, das sie in signifikante Oppositionen zueinander setzt; sie müssen also – in Bezug auf die Zeichen, deren Identifizierung sie ermöglichen – als Idiolekte betrachtet werden.
Die ikonischen Codes verändern sich innerhalb eines und desselben Kulturmodells sehr leicht; oft sogar innerhalb ein und derselben Abbildung, wo die Gestalt im Vordergrund durch offensichtliche Zeichen wiedergegeben wird, wobei die Wahrnehmungsbedingungen in Figuren gegliedert werden, während die Bilder auf dem Hintergrund auf Grund von groben Erkennungsaussagen zusammengefasst sind, von denen man andere im Dunklen belassen hat (daher erscheinen die Hintergrundsfiguren eines alten Bildes, wenn man sie vergrößert und isoliert, wie Beispiele moderner Malerei, da auch die moderne figurative Malerei immer mehr darauf verzichtet, Wahrnehmungsbedingungen zu reproduzieren, um nur noch einige Erkennungs-Seme wiederzugeben).
6) Ikonographische Codes: Sie wählen die Signifikate der ikonischen Codes zum Signifikans, um komplexere und kulturell bestimmte Aussagen zu konnotieren (nicht mehr 'Mann' oder 'Pferd', sondern 'Mann-Monarch', 'dieses Pferd ist Bucephalos' oder 'dies ist die Eselin von Balaam'). Sie sind durch die ikonischen Variationen hindurch erkennbar, da sie auf auffälligen Erkennungsaussagen basieren. Sie schaffen äußerst komplexe syntagmatische Konfigurationen, die aber dennoch unmittelbar erkennbar und katalogisierbar sind, vom Typ: 'Christi Geburt', 'Jüngstes Gericht', 'die vier Reiter der Apokalypse'.
7) Codes des Geschmacks und der Sensibilität: Sie bestimmen (mit extremer Veränderbarkeit) die Konnotationen, die von den Einheiten der vorhergehenden Codes angeregt werden. Ein griechischer Tempel kann 'harmonische Schönheit', 'Ideal des Griechentums', 'Altertum' konnotieren. Eine Fahne im Wind kann 'Patriotismus' oder 'Krieg' konnotieren; lauter Konnotationen, die auch von der Sprechsituation abhängen. So konnotiert ein bestimmter Typ von Schauspieleein in einer bestimmten Epoche 'Anmut und Schönheit', während er in einer anderen Epoche lächerlich erscheint. Die Tatsache, daß dieser Kommunikationsprozeß unmittelbare Reaktionen der Sensibilität (wie erotische Stimuli) hervorruft, beweist nicht, daß die Reaktion natürlich und nicht kulturell wäre: die Konvention macht einen körperlichen Typ begehrenswert oder nicht. Auch das sind Codifikationen des Geschmacks, durch die ein Icon eines Mannes mit einer schwarzen Binde auf dem Auge, das im Lichte eines ikonologischen Codes 'Pirat' konnotiert, darüberhinaus noch 'faszinierender Mann', 'Abenteurer', 'mutiger Mann' konnotieren kann.
8) Rhetorische Codes: Sie entstehen aus der Konventionalisierung von noch nicht dagewesenen ikonischen Lösungen, die dann von der Gemeinschaft assimiliert werden und Kommunikationsmodelle oder -normen werden. Sie unterscheiden sich, wie bei den rhetorischen Codes im allgemeinen, in rhetorische Figuren, Prämissen und Argumente.
9) Stilistische Codes: Bestimmte originelle oder von der Rhetorik codifizierte Lösungen oder solche, die nur einmal verwirklicht wurden, konnotieren (wo sie angeführt werden) einen Typ stilistischen Gelingens, das Kennzeichen eines Autors (Typ: 'ein Mann, der sich auf einer spitz zulaufenden Straße entfernt = Chaplin') oder die typische Realisierung einer Gefühlslage ('Frau, die sich schmachtend an den Vorhängen eines Alkovens festhält = Erotik der Belle Epoque') oder auch die typische Realisierung eines ästhetischen, technisch-stilistischen usw. Ideals.
10) Codes des Unbewußten: Diese strukturieren bestimmte ikonische oder ikonologische, rhetorische oder stilistische Konfigurationen, die konventionellerweise für fähig gehalten werden, bestimmte Identifikationen oder Projektionen auszulösen, bestimmte Reaktionen zu stimulieren, psychologische Situationen auszudrücken. Sie werden insbesondere in Persuasionsbeziehungen verwendet.
Wir haben der Einfachheit halber in der vorangegangenen Aufzählung immer von 'Codes' gesprochen. Es muß aber (in Bezug auf unsere Ausführungen in A. 2. IV. 8.) darauf hingewiesen werden, daß die 'Codes' wahrscheinlich oft konnotative Lexika oder sogar einfache Repertoires sein werden. Wie wir gesagt haben, strukturiert sich ein Repertoire nicht zu einem Oppositionssystem, sondern stellt nur eine Liste von Zeichen auf, die sich nach den Gesetzen eines darunterliegenden Codes gliedern. Meistens wird wohl die Existenz des Repertoires genügen, um die Kommunikation zu ermöglichen, aber manchmal wird man ein System von Oppositionen identifizieren müssen, wo nur ein Repertoire erschien, oder ein Repertoire in ein System von Oppositionen verwandeln müssen. Wie schon bemerkt, ist das System von Oppositionen jedenfalls wesentlich für die Systematisierung eines konnotativen Lexikons, auch wenn dieses sich auf einen darunterliegenden Code stützt. So stützt sich das ikonologische Lexikon zwar auf den ikonischen Code, aber es setzt sich nur dann fest, wenn z. B. Oppositionen vom Typ 'Judith vs Salome' aufgestellt werden und wenn die Unvereinbarkeit des Sems 'Schlange unter dem Fuß' mit dem Sem 'Augen auf einem Tellerchen' festgelegt wird (welche die Bedeutung 'Maria' von der Bedeutung 'Heilige Lucia' unterscheidet)." (Eco, 1972, S. 246–249)