openopen
vorhergehendes Kapitelvorhergehendes Kapitelvorhergehendes Kapitelvorhergehendes Kapitel
nachfolgendes Kapitelnachfolgendes Kapitelnachfolgendes Kapitelnachfolgendes Kapitel
closeclose
Teil 6 - Diskussion

6-3: Formen

Eigenständigkeit, Stellenwert und Definition des Formalen

In der Literatur herrscht Unklarheit über die Eigenständigkeit und den Stellenwert «abstrakter» graphischer Erscheinungen, welche weder mit einer Analogiebildung noch mit einem anderen Verhältnis zu Nicht-Graphischem in Verbindung gebracht werden können (vgl. entsprechenden Hinweis in Kapitel 1-2-02). Die Ergebnisse der vorliegenden Studie erlauben es nun, zwei grundlegende Aspekte dieser Kontroverse zu klären:

Dieser Befund stellt die Frage nach dem Formalen früher Bilder und damit die Frage nach der frühen bildhaften Erkenntnis in den Vordergrund der Erörterung der Bildgenese. Allerdings ist erst noch zu klären, was unter «Form» und «Formalem» in genauem Sinne verstanden werden soll. Verschiedene Möglichkeiten bieten sich für eine Definition an, wovon fünf Beispiele genannt werden sollen:

Wie in Teil 2 erläutert, sind wir der Auffassung, dass das Formale im Zentrum der gesamten frühen Entwicklung graphischer Äusserungen steht. Deshalb werden in der vorliegenden Studie – mit Ausnahme flächiger Spuren ohne jede erkennbare Differenzierung – alle Erscheinungen als formale verstanden, als Erscheinungen, welche sich in erster Linie auf eine bildhafte Erkenntnis beziehen. Die Frage steht aber zur weiteren Klärung offen.

«syntaktisch» und «semantisch»

In der Literatur wird für Bilder häufig das «Syntaktische» vom «Semantischen» unterschieden, das heisst der Bereich des konkret Sichtbaren in einem Bild von dessen Bedeutung, vom Abgebildeten (exemplarisch vorgestellt und auch für visuelle Erzeugnisse durchgeführt von Eco, (1972, 1973/1977). Diese Unterscheidung geht in der Regel davon aus, dass sich die beiden Seiten gegenseitig bedingen und also gegenseitig ausbilden. Aber für frühe graphische Äusserungen ist eine solche Auffassung unangebracht, weil sich wie erwähnt bildhafte Merkmale vor und auch abseits von Analogien ausbilden und zumindest zum Teil als eigenständig aufzufassen sind. Diese Beobachtung führt zu einem begrifflichen Problem. Entweder man schränkt die Unterscheidung «syntaktisch» zu «semantisch» auf «gegenstandsanaloge» Darstellungen, Fiktionen und streng codierte «abstrakte» Darstellungen ein und setzt für die anderen graphischen Erscheinungen andere Begriffe, oder man erweitert die Auffassung des «Syntaktischen» und des «Semantischen» in einer Weise, dass Bilder ohne Abbildcharakter mit einbezogen sind.

«Bild» und «Ornament»

In vielen kunstwissenschaftlichen und bildtheoretischen Texten herrscht eine Tendenz vor, graphische Äusserungen zu unterteilen in «Bilder» und «Ornamente». Erstere bilden etwas ab oder stellen etwas dar (sind im umgangssprachlichen Sinne «ähnlich» zu etwas Sichtbarem oder visuell Vorstellbarem), Letztere stellen häufig «nichts» dar (zur Gleichsetzung von Bild und Abbild, siehe als Beispiele Goodman, 1976/1997, S. 15-21 und Sachs-Hombach, 2006, S. 49-51 sowie S. 74). Der Ausdruck «Abbild» wird dabei mit Ausdrücken wie «Ähnlichkeit», «Imitation» und «Repräsentation» in Verbindung gebracht, während «Ornament» häufig parallel zu Ausdrücken wie «reine Form», «reine Formgebung», «rein Formales», «Abstraktes», «Dekoratives» auftritt. Gemäss einem solchen Sprachgebrauch werden nur Abbildungen als Bilder bezeichnet, mit eingeschlossen «abstrakte» Bilder der modernen Kunst, und «Ornamente» werden als solche getrennt abgehandelt oder fehlen gar vollständig in den jeweiligen Erörterungen.

Frühe graphische Äusserungen als Erscheinungen der individuellen Entwicklung (der Ontogenese) lassen aber eine tiefe Skepsis gegenüber dieser Unterscheidung aufkommen: Das «Abstrakte» oder «bloss Formale» des frühen Graphischen entspricht in erster Linie keiner Verzierung, sondern stellt die Grundlage der Bildgenese selbst dar. Es steht dabei weder in Abhängigkeit von der «gegenstandsanalogen» Darstellung oder Abbildung noch in Opposition zur ihr.