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Teil 6 - Diskussion

6-2: Fragen der Interpretation

Vergleicht man die hier vorgelegten Befunde mit denjenigen aus der Literatur, so drängen sich insbesondere drei Feststellungen auf:

Aus diesen Feststellungen ergeben sich drei Folgerungen:

Auf einige Aspekte dieser Folgerungen gehen die nachfolgenden Kapitel zur Form, zur Darstellung und zur Repräsentation näher ein. Diesen Erläuterungen seien aber allgemeine Bemerkungen zur Frage des Interpretierens von Befunden vorangestellt.

Eine einzelne graphische Erscheinung für sich kann zu ganz anderen Interpretationen führen als ein Ensemble von verschiedenen Erscheinungen, als ein graphischer Kontext, in welchen eine einzelne Erscheinung eingebettet ist. Eine Interpretation sollte sich deshalb auf ein jeweils zu beobachtendes graphisches Repertoire in einem einzelnen Bild oder in einem Kontext von Bildern beziehen. Dazu das folgende Beispiel: Beachtet man im Bild 12315 des Mädchens (050) nur die Kreisende Bewegung, so könnte man dazu verleitet sein, dies als «grobmotorischen» Ausdruck zu interpretieren und darin die Beziehung zur allgemeinen Entwicklung des Kindes zu sehen. Untersucht man aber den Bildkontext (siehe Zusammenstellung Z6-2-A), und bemerkt man insbesondere die Ansätze und Ausformulierungen der Spirale, so ist eine solche Auslegung kritisch. Die dafür notwendige Linienführung ist nicht direkt aus der Motorik abzuleiten. Bemerkt man zudem die Ausdifferenzierung verschiedener «oppositioneller» Abbilder graphischer Bewegungen mit grober Ausrichtung der Linienführung, die Anzeichen gerader Linienführungen sowie die ausgeprägte Variation der Formgrösse, so stellt sich die Frage der Interpretation des frühen graphischen Geschehens mit ganz anderem Gewicht und Anspruch.

Zusammenstellung Z6-2-A = 12315+12313+12314

In diesem Zusammenhang sind auch die Bilderserien 1-BAB zur Freien Linienführung und 1-BAC zu frühen spiralartigen Erscheinungen beachtenswert (siehe Archiv, Menüeintrag «Bilderserien - Animationen»).

Entsprechendes gilt für die Interpretation von so genannt «gegenstandsanalogen» Abbildungen. Auch dazu sei ein Beispiel erläutert. Die Zusammenstellung Z6-2-B zeigt zunächst drei frühe Bilder des Knaben 001, dessen Kommentare nicht nachvollziehbar sind. Das vierte Bild entspricht einem der ersten Beispiele für Abbildungen, wie sie gemeinhin als visuell nachvollziehbar bezeichnet werden. Anhand der Serie ist man dazu verleitet, eine Entwicklung von Bildern mit «beigefügten» Bedeutungen (in der zweiten Hälfte des zweiten Lebensjahres erstmals auftretend; vgl. beispielsweise die Darstellung von Widlöcher in Kapitel 1-2-04) zu visuell nachvollziehbaren Analogien (gegen Ende des vierten Lebensjahres erstmals auftretend; vgl. wiederum die Darstellung von Widlöcher) zu interpretieren und davon auszugehen, die Menschdarstellung stünde im Zentrum von Letzteren.

Zusammenstellung Z6-2-B = 3+43+71+1287

Untersucht man aber alle erscheinenden Analogiebildungen in den Bildern des Knaben, so zwingt sich eine wichtige Differenzierung auf. Dies illustriert die Zusammenstellung Z6-2-C, in welcher den vier oben genannten Bildern andere Beispiele früher Analogiebildungen hinzugefügt wurden. Letztere mögen anhand der visuellen Betrachtung alleine als «sinnlos» erscheinen, sie sind aber anhand der Kommentare durchaus nachvollziehbar und erscheinen bei dem Knaben zum Teil gleichzeitig zu Bildern mit «beigefügten» Bedeutungen – zunächst über eine Analogie eines einzelnen Merkmals des Graphischen mit einem einzelnen Merkmal des Abgebildeten, dann als Analogie einer graphischen Zusammensetzung oder Konfiguration mit zwei oder mehreren Eigenschaften des Abgebildeten.

Zusammenstellung Z6-2-C = 3+9+19+20+2009+1237+38+120+43+71+85+140+174+224+226+318+1287

In diesem Zusammenhang ist die Bilderserie 1-AF zum Aufkommen gegenständlicher Bilder im Alter von zwei bis drei Jahren zu beachten. Auf eine noch anstehende Erarbeitung einer allgemeinen frühen Entwicklungsstruktur der bildhaften Analogie geht zudem das Kapitel 6-4 näher ein.

Ein drittes Beispiel für die Notwendigkeit, das jeweils erscheinende graphische Repertoire bei einer Interpretation zu berücksichtigen, bieten die vier Bilder des Mädchens (100) in der Zusammenstellung Z6-02-D. Beschreibt man nur die Merkmale der ersten beiden Bilder der Serie, so ist man dazu verleitet, frühe Abbildungen von Kindern grundsätzlich als «schematisch» auszulegen, als Ergebnis einer Verwendung von geometrieartigen Grundformen in immer gleicher Weise. Eine solche Auslegung ist denn auch in der Literatur die Regel. Bezieht man aber die nachfolgenden beiden Bilder mit ein, so eröffnet sich die Möglichkeit eines weit komplexeren Vermögens der Kinder, das Verhältnis des Graphischen zum Dargestellten schon früh zu beurteilen und zu verwirklichen. (Eine mögliche Auslegung für die Beobachtung «schematischer» Analogiebildungen könnte darin bestehen, dass das «Schematische» den Kindern eine bessere und variablere Systematik des Abbildens erlaubt als das «Umrissartige». Hiesse, auch Kinder in frühem Alter können sehr wohl verstehen, dass man mit Umrissen abbilden kann, aber sie können in der Regel dieses Vermögen nicht so entwickeln, dass sie sehr Verschiedenes – Menschen, Tiere, Pflanzen, Häuser, Autos, Flugzeuge und so weiter – auf solche Weise, in einem Bilde «durchorganisiert» und für andere leicht erkennbar, zeichnen können.)

Zusammenstellung Z6-2-D = 32639+34316+32645+32643

Die Interpretation einer einzelnen graphischen Erscheinung verlangt aber nicht nur nach der Berücksichtigung des jeweiligen graphischen Repertoires, sondern auch nach einer Unterscheidung von einzelnem Bildmerkmal und ihm übergeordneter graphischer Eigenschaft, hier Oberkategorie genannt. Wir haben in Kapitel 3-4 bereits darauf hingewiesen. Dazu ein weiteres Beispiel: Vergleicht man das zeitliche Auftreten und den graphischen Kontext des Einzelmerkmals Einschränkungen / Minderungen für die beiden Kinder (003) und (030), so erscheint dieser Aspekt beim Knaben (003) im Monat 17, im Umfeld von Offenen Einzelformen mit differenzierter Linienführung und Andeutungen von Zusammensetzungen, beim Mädchen (030) hingegen im Monat 26, in Zusammenhang mit den ersten Geschlossenen Formen. Zeitliches Auftreten und graphischer Kontext sind also verschieden. Bezieht man sich aber auf die übergeordnete Eigenschaft der Variation von Formattributen, so entsprechen sich die Entwicklungsverläufe der beiden Kinder. Die Variation von Formattributen tritt beim Knaben (003) ab Monat 13 und bei dem Mädchen (030) ab Monat 18 auf, in beiden Fällen in Zusammenhang mit auftretenden Offenen Einzelformen mit differenzierter Linienführung und ersten Andeutungen von Zusammensetzungen. – Es kann zwar wie oben erwähnt noch keine allgemeine Regel formuliert werden, welche einzelnen Merkmale als solche, eigenständig und für sich, und welche anderen Merkmale nur als mögliche Varianten einer übergeordneten graphischen Eigenschaft die graphische Entwicklung markieren. Die hier vorgestellten empirischen Befunde deuten aber darauf hin, dass übergeordnete Eigenschaften häufiger einen allgemeineren und bei vielen Kindern ähnlich zu beobachtenden Stellenwert besitzen, als dies bei einzelnen Merkmalen der Fall ist.